„Mein Kind kann mich nicht in den Arm nehmen.“
„Mein Kind freut sich nicht, wenn es mich sieht.“
„Mein Kind wehrt sich, wenn ich es küssen möchte.“
„Ich weiß nicht, ob mein Kind mich liebt.“
Diese Aussagen höre ich in der Praxis immer wieder von betroffenen Eltern. Und viele fragen sich: „Können Menschen im Autismus-Spektrum lieben?“
Eines möchte ich direkt zu Beginn sagen: Autistische Menschen sind genauso in der Lage zu lieben wie nicht-autistische Menschen. Oft zeigen sie es nicht so, wie wir es gern hätten bzw. wie wir die Art und Weise des Liebens definieren. Andersherum erkennen sie die Liebe ihrer Eltern vielleicht nicht, weil sie gar nicht wissen, wie sich Liebe äußert. Sie haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle und die Gefühle ihrer Mitmenschen wahrzunehmen und zu verstehen. Und sie können es oft nicht sprachlich ausdrücken, was sie fühlen. Wenn es also manchmal so scheint, als wären ihnen ihre Eltern „egal“ oder als bräuchten sie sie nicht, heißt das noch lange nicht, dass dies auch der Wahrheit entspricht.
Ich möchte Ihnen von einem Beispiel aus meiner Praxis erzählen. Vor ein paar Jahren war ich zusammen mit zwei Kolleginnen und sechs Kindern, darunter drei autistischen Kindern auf einer Ferien-Freizeit. Nachdem wir drei tolle und aufregende Tage verbracht hatten, wurden die Kinder von uns nach Hause gebracht. So fuhren wir auf den Hof einer betroffenen Mutter, die schon voller Vorfreude auf ihren Sohn wartete. Sie hockte sich hin und breitete ihre Arme weit aus, um ihren Sohn zu umarmen. Ihr Sohn stieg allerdings aus dem Auto, lief auf seine Mutter zu, direkt an ihr vorbei zur Haustür. Er freute sich sichtlich, wieder zuhause zu sein. Er konnte seiner Mutter aber nicht zeigen, dass er sich auch freute, wieder bei ihr zu sein. Seine Mutter weinte und schien zu tiefst verletzt...
Ja! Es schmerzt sehr, wenn das eigene Kind Umarmungen und Küsse ablehnt, sich dagegen wehrt oder einfach vorbei läuft, wenn man mit ausgebreiteten Armen vor ihm steht. Und natürlich vermisst man es, wenn das eigene Kind nie sagt: „Ich hab dich lieb“. Ich verstehe alle betroffenen Eltern an dieser Stelle so gut und kann es schmerzlichst nachempfinden, wie Eltern sich in diesen Situationen fühlen müssen.
Aber glauben Sie mir: Nur weil viele autistische Menschen Schwierigkeiten mit körperlicher Nähe haben, heißt das nicht, dass sie nicht lieben oder lieben können. Sie lieben ihre Eltern und zeigen es eben auf ihre Weise. Das weicht natürlich von dem ab, was wir unter Liebe verstehen bzw. besser gesagt, was wir darunter verstehen, die Liebe zu zeigen.
Fragen Sie sich, ob es sinnvoll ist, Ihrem Kind anzutrainieren, Körperkontakt ertragen zu müssen. Wäre das ein aufrichtiger Liebesbeweis? Oder denken Sie einmal genau darüber nach, auf welche Art und Weise Ihr Kind Ihnen seine Liebe zeigt. Ich bin sicher, dass es ganz viele Situationen gibt, in denen es genau Sie braucht und Sie bittet, etwas zu tun – sei es sprachlich oder auch ohne Worte. Das alles sind sicherlich Situationen, in denen Ihr Kind Ihnen seine Liebe gesteht.
Für mich ist klar: Jeder autistische Mensch, den ich in meiner langjährigen Arbeit kennengelernt habe, war fähig zu lieben und hat Zuneigung gezeigt - auf ganz unterschiedliche Art und Weise.
Und denken Sie daran: Sie sind nicht allein. Es gibt unzählige Eltern, die Ihre Sorgen teilen und die vor dem gleichen Problem stehen.